Karl Kernig, Stammpersonal Wuchsaufsicht vom Baumamt Leichlingen im Ruhestand:
Die meisten von uns sind ja schon fast 70 Jahre in dieser Stadt. Anfangs fühlten wir uns richtig wohl hier und viele von uns entschieden sich, hier Wurzeln zu schlagen. Neben dem milden Klima gefiel uns besonders die Ruhe in dieser kleinen Stadt. Ich selbst war jung und stark wie ein Baum, als ich hierher kam.
Die Plätze, die wir zugewiesen bekamen, waren von Beginn viel zu klein, die Nähe zur Straße machte uns große Sorgen. Mir als Wuchsaufsichtsbeauftragtem ließ das schon frühzeitig graue Äste wachsen. Es dauerte nicht lange und die Straße kam irgendwie immer näher an uns heran. Vielleicht lag es auch daran, dass wir einfach nur größer wurden. Die Autos wurden stetig mehr, von der schlechten Atemluft ganz zu schweigen – stickig und irgendwie bleiern. Bis dann eines Tages diese Burschen in der orangefarbenen Kleidung auftauchten. Sie sägten wie wild an uns herum und wir sahen regelrecht entstellt aus. Trinkgeld bekamen die dafür jedenfalls keines. Nur die Straße war gefühlt wieder etwas weiter entfernt, als vorher.
Irgendwann kamen plötzlich große Maschinen, ich habe gleich gesagt, dass da irgendwas im Busch ist. Die Menschen fingen damit an, Löcher zu graben und Rohre im Boden zu verstecken oder Häuser direkt in unsere Nähe zu bauen. Wenn man Pech hatte, gab es von heute auf morgen kaum noch Tageslicht für uns. Meine Beschwerden beim Kirschenrat Leichlingen verliefen seinerzeit im Sande, was ich als bodenlose Frechheit empfand. Von Rücksicht auf uns war auch weiterhin keine Spur. Bagger und Maschinen gruben in unsrerer Nähe rum, verletzten unsere Füße oder brachen uns Äste ab. Die Menschen benahmen sich, wie die Axt im Walde. Das schwächte einige von uns so sehr, dass unsere schrecklichen Erzfeinde, die Pilze auftauchten und leichtes Spiel hatten. Mich schüttelt´s komplett durch, wenn ich nur daran denke, was die mit uns anstellen…
Und als wenn das der Sorgen nicht genug wäre, missbrauchten uns die Bauarbeiter als Ständer für ihre Baustellenschilder, oder hingen Kabel und Leitungen an uns auf. Die schweren Maschinen fuhren uns über die Füße und das Atmen war fast unmöglich. Ich hätte nie gedacht, dass man als stolzer Baum so tief sinken kann.
Heute sind die meisten von uns so krank, dass sie nicht mehr lange durchhalten. Meinen Job bei der Baumaufsicht übe ich längst nicht mehr aus, ich bin ja seit einigen Jahren im Ruhestand. Ich musste den Job leider an den Nagel hängen, weil ich den Stress nicht mehr ertragen habe, da nehme ich gar kein Blatt vor den Mund. Mir graut es vor dem Tag, wenn das Geräusch der Sägen ganz nah erklingt… ich zittere jetzt schon, wie Espenlaub.